WM 2023 - die (grosse) Analyse
14. Rang in der Mitteldistanz (und Zuschauer beim Staffelgold der Schweizer Männer) - das ist meine Bilanz der Heim-WM Flims-Laax. Was zu einem Höhepunkt meiner Karriere werden sollte, wurde resultatmässig zu einer grossen Enttäuschung. Ich hatte mir für die Heim-WM viel vorgenommen und auch entsprechend viel investiert. Drei von unzähligen Beispielen:
Seit mehr als 2 Jahren haben wir mit dem Nationalkader immer wieder relevantes alpines oder voralpines Laufgelände für die OL-Trainingslager aufgesucht.
Dazu investierte ich viel in die physische Vorbereitung, beispielsweise mit einem speziellen Höhentrainingslager im Winter 2023 in Kenia.
Mitte April legte ich mein Teilzeitpensum als Umweltingenieur nieder, um während 3 Monaten als Profisportler optimale Rahmenbedingungen für die WM-Vorbereitung zu schaffen.
Dies und viel mehr für einen 14. Rang - ist man versucht zu sagen...
Der Traum, die Vision
Gestartet hatte ich mein Heim-WM Projekt mit einem Traum: Weltmeister vor Heimpublikum. In dieser Vision sah ich mich mit einem Einsatz über die Mitteldistanz und in der Staffel. Aus dieser Vision/diesem Traum heraus formulierte ich meinen Antrieb, definierte meine RoadToWOC, stellte in 4 verschiedenen Bereichen Massnahmen für den (Trainings-)Alltag auf und kreiierte so meine Grob- und Detailplanung Richtung WM. (Details dazu vielleicht mal später in einem Post, wenn ich Zeit und Lust dazu finde).
Das Ziel
Im Vorfeld der WM kommunizierte ich mein Rangziel für die WM-Mitteldistanz gegen aussen wie folgt: Top 6. Persönlich jedoch wollte ich mehr, nämlich im Medaillenkampf ein Wort mitreden können.
Im Nachhinein steht fest, dass ich es nicht geschafft habe, an der WM-Mitteldistanz im Medaillenkampf ein Wort mitreden zu können. Zwar liege ich nach 7.5' Rennminuten (bei Posten 4) vor meinem Fehler virtuell an zweiter Stelle (9 Sekunden hinter dem späteren Weltmeister). Auch ohne Fehler und mit optimalem technischen Lauf war ich an diesem Tag jedoch kaum in der (physischen?, technischen?, mentalen?) Verfassung um den Medaillen nahe zu kommen.
Was fehlte?
Ich versuche hier auf Spurensuche zu gehen, wieso ich am wichtigsten Lauf des Jahres weit von meinem Rangziel entfernt blieb:
Posten 5. Die längste Teilstrecke des Laufes. Nach dem schwierigen Startteil (insbesondere Posten 1-3) die vermeintliche "Verschnaufpause" eines Postens. Ausgerechnet diese Teilstrecke wird mir zum Verhängnis. Alles ist schief gelaufen: Die Routenwahl, die Routenumsetzung, und das Postenanlaufen. 2min 27s Zeitverlust auf die Abschnittszeit. Vom virtuellen Zwischenrang 2 bei Posten 4 auf den virtuellen Zwischenrang 17 bei Posten 5.
Mein OL-Konzept war bereit für "The detailed, complex contours and the many rock details require accurate map reading." [Bulletin 4]. Und ich hatte durchaus meinen "magical moment" zu Posten 1 ("Magical moments are certain when navigating around knolls, depressions or boulders and seeing the control exactly where you expect it to be!" [Bulletin 4]). Aber ich war anscheinend nicht genug bereit für eine längere Route (eine relative Schwäche in meiner OL-Technik, welche mir nicht neu ist). Zwar war ich für eine Routenwahl an entsprechender Stelle vorbereitet - in allen Längen, Winkeln und Varianten habe ich bei den Simulationsbahnen (danke Sevä!) eine solche Routenwahl dort vorgesehen. Aber während dem Lauf nahm ich mir zuwenig Zeit für die Routenwahl (zu schneller Entscheid für links) und erkannte nicht, dass auf meiner gewählten linken Route insbesondere das Hinauslaufen bis auf die Strasse 1. langsam und 2. schwierig umzusetzen (siehe meinen Richtungsfehler) ist. Das Fass zum Überlaufen brachte dann mein Entscheid, statt wie der eingeholte Franzose via Strasse links, den Posten direkt an zu laufen. Aufgrund meiner bereits etwas ramponierten Karte hielt ich als Postenstandort nach einem Hügel Ausschau und erst nach kurzem Umherirren löste der Kontrollblick auf die Postenbeschreibung (wäre eigentlich im Konzept vorgesehen gewesen - danke Mätthu!) mein Missverständnis - eine kleine Senke!
BackToFlow. Ich war vorbereitet auf diese Situation: einen (kleinen) Fehler. Mit den Keywords "Zrügg id Spur" und dann den konkreten Handlungshinweisen 1. Was mues cho? (Plan) 2. Richtig näh (Kompass) 3. Kontrolliere mit Objekt! (Mitlese) war das Szenario sattelfest eingespielt und hundertfach trainiert (danke Andle für die Hilfe!). Ich sollte damit meine Gedanken nach einem Fehler wieder möglichst schnell auf die Handlungsschiene (und nicht auf dem Nachtrauern des Zeitverlustes) lenken können. Ich würde sagen es funktionierte "einigermassen gut". Vom Gefühl her während dem Lauf war ich nach Posten 5 voll im Flow zurück. Keinerlei Folgefehler, guter Mittelteil bis zum Caumasee. Der Blick auf die Grafik zeigt jedoch auch: Die "Magie" war weg. Keine schnellen Abschnittszeiten mehr, konstant verliere ich Zeit. Wie viel davon ist die physische Kompenente (eine starke Startphase ist nichts Neues für mich) und wie viel trotz BackToFlow das unbewusste Verarbeiten meines Fehlers? Ich weiss es nicht.
38 Tage bis zur WM: Die vom WM-Organisator organisierten Selektionsläufe wurden vom Schweizer Team lediglich als Trainings-/Testwettkämpfe verwendet. Ich zeigte mich in blendender Verfassung, physisch und OL-technisch, konnte zwei Mal auf Rang 2 laufen gegen die starke internationale Konkurrenz. Mein Selbstvertrauen erreichte den Höhepunkt.
18 Tage später bei den Selektionsläufen des Schweizer Teams (20 Tage bis zur WM): Ein ganz anderes Bild. Zu wenig erholt (War der Jukola-Trip nach Finnland zu viel? Habe ich es im Engadin im Höhentrainigslager etwas übertrieben?) startete ich in die Testlauf-Tage. Das aus meiner Sicht unglückliche Programm (zuerst Long, danach die Mitteldistanz) wird durch die brutal lange Langdistanz und Reisen quer durch die Schweiz noch unglücklicher, ich erholte mich schlecht für die Mitteldistanz, fühlte mich unter Zugzwang und "will einen raushauen". Das war ein (taktischer) Fehler, es wäre besser gewesen - wie so oft bei Testläufen - einen dieser "konstanten, sicheren" Läufe zu zeigen. Eine mässige bis schlechte Leistung am wichtigsten Wettkampf vor der WM - mein Selbstvertrauen erreicht den Tiefpunkt.
Das Knie. Am Abend nach dem Mitteldistanz-Testlauf verspürte ich starke Schmerzen im linken Knie. Was ich vorest mit Quarkwickel zu beruhigen versuchte, stellte sich fünf Tage und ein MRI später als Partialruptur MCL im linken Knie heraus. Die Diagnose eines angerissenen Innenbands: nicht gerade optimal, 12 Tage vor dem Start der WM... Medizinisch wurde mir aber mit den entsprechenden Massnahmen kein No-Go für die WM verschrieben (danke Zaschi!) und ich konnte am Tag der Diagnose bereits schmerzfrei Bergauf rennen. Darauf fasste ich neuen Mut (danke Tom!): Mein angepasster Fahrplan zur WM hin überzeugte mich und ich sah auch viel Positives darin (mehr Steigungsmeter in der letzten Vorbereitung, grössere mentale OL-Frische dank etwas weniger OL-Training, etc.). Ein entsprechender Tapeverband (danke Cédi und Manu!) stabiliserte zusammen mit der Muskulatur mein Knie so gut, dass ich später auch beim Querlaufen im Gelände schmerzfrei blieb. Vordergründig denke ich nicht, dass sich meine Kniesituation negativ aufs WM-Resultat ausgewirkt hat. Ob mich der Tapeverband allenfalls nicht doch etwas behinderte, oder ich mit normaler Vorbereitung mehr herausgeholt hatte, kann ich aber nicht abschliessend beantworten.
Die Staffel. Die grösste Enttäuschung während dem ganzen Projekt (neben dem finalen Resultat) war die Nicht-Selektion ins Schweizer WM-Staffelteam. Dies nahm mir sehr viel Wind aus den Segeln und verursachte eine Trendwende in meinem Selbstvertrauen-Index. Es sei hier gesagt, dass ich nicht den Selektionsentscheid in Frage stelle, sondern von mir selber enttäuscht war, dass ich dem Selektionsteam nicht bessere Karten und mehr Trümpfe für mich auf den Tisch legen konnte. Hier stellte sich die Knieverletzung-Diagnose (siehe oben) als sehr positiv dar: Plötzlich bestimmte nicht mehr der verwehrte Traum von Staffelgold meine Gedanken, sondern mit welchen Massnahmen ich es schaffen würde zwei Wochen nach einer Innenband-Partialruptur WM-bereit am Start zu stehen - so fand ich 3 Tage nach den Selektionen aus dem Selbstmitleid-Sumpf heraus.
Physis. Wieso musste ich praktisch jede Steigung während der Mitteldistanz hochgehen (anstatt zu rennen)? In der unmittelbaren Vorbereitung auf die WM verzichtete ich auf Krafttraining - vor allem um nicht mit von Muskelkater geplagten Beine die Intervall-Trainings laufen zu müssen. Sind die fehlenden Gym-Stunden im letzten Monat vor der WM das fehlende Puzzle-Teilchen? Oder was habe ich in der physischen Vorbereitung falsch gemacht? Dass ich meine physische Verfassung jeweils auf die WM hin noch (markant) verbessern konnte, habe ich mir in vorangehenden Jahren schon gezeigt (2018, oder auch 2021 und 2022). Dieses Jahr blieb die WM-Magie aus.
Müsste ich all das in einem Satz einer Person zusammenfassen, welche keine Ahnung von Sport hat, würde ich es so sagen: Ich war wohl einfach zu wenig stark.
Was bleibt nun von der Heim-WM 2023?
"Der Weg ist doch das Ziel" hat sie (danke Ele, für deine Unterstützung vor, während und nach der WM!) in den letzten Tagen mal gesagt, um mich etwas aufzumuntern. Und es stimmt schon: Erfolge, Medaillen, Siege feiern zu können, ist im Moment etwas unglaublich Schönes. Aber genauso schön sind auch die Erlebnisse oder die gemeisterten Herausforderungen auf dem Weg (nicht) dorthin.
Die drei Wochen im kenianischen Laufmekka Iten war meine mit Abstand speziellste Trainingslager-Erfahrung.
Zum mittwöchentlichen Bahn-Training im Winter und Frühling entwickelte ich eine richtiggehende Hassliebe.
Gstaad, Moosalp, Arosa, Lenzerheide, Davos, Seefeld, Engadin - Destinationen wie aus einem asiatischen Touristenprospekt durften wir allesamt bei den vielen OL-Trainings besuchen.
In der Ferienwohnung von Zaschi (danke Familie Züst!) in Trin Mulin mit bester Aussicht auf die Zielarena der Mitteldistanz Qualifikation fühlte ich mich durch die vielen Kurzaufenthalte wie zuhause - das zeigt sich auch beim Crestasee, wo sie uns zum Tarif der Einheimischen baden liessen.
Den WOC23- aka. flimsgibims-Loop im Züriberg werde ich wohl in 10 Jahren noch im Schlaf abrennen können.
Zum Glück habe ich neben dem Rangziel auch ein zweites Ziel für die WM-Woche definiert: "Ich will diese Heim-WM als positive Erinnerung fürs Leben behalten, indem ich im Vorgang und während der WM-Woche stets den Moment mit allen Emotionen geniesse". Dieses Ziel habe ich klar übertroffen. Die Heim-WM in Flims-Laax wird mir definitiv als OL-Fest der Extraklasse in Erinnerungen bleiben!
Ein grosses Dankeschön allen involvierten Personen, welche die OL-WM 2023 zur unvergesslichen Erinnerung machen:
Die am besten organisierte WM seit ich dabei bin; mit einer als Hexenkessel konzipierten Zielarena, einem regelrechten “Athletendorf”, kurzen Wegen, stimmungsvollen Zeremonien, spektakulärem OL-Gelände und einer unerreichten Liebe zum Detail (Panini-Sammelalbum für Fans, Maskottchen Capri als Highlight für die Kleinsten, aktive Verwirrungstaktik der Organisatoren via Touristen-Info durch mutmassliche Sperrung des Nordteils des Caumasee zur Gewährung eines Überraschungsmoments in der Mitteldistanz, etc.)
Eine (wohl?) noch nie dagewesene Präsenz des Schweizer OL-Sports im TV (SRF)
Zahlreiche und lautstarke Schweizer OL-Fans, welche trotz Überhitzungsgefahr für Hühnerhautmomente während dem Zieleinlauf sorgten
Die grosse Unterstützung meiner Familie, Freunde, Fans und Supporter, vor Ort oder von weiter weg
Der ganze Staff des Schweizer Teams (Chefcoach, Coach, Physio, Küche, Arzt, Postensetzer, Mentalcoach) welcher uns wie immer den Rücken freihielt und für optimale Rahmenbedingungen sorgte
Und last but not least meine Schweizer Teamkolleginnen und Kollegen, welche die WM so richtig rockten!! Getragen von der Erfolgswelle hatte ich schlicht keine Lust um nach meinem Wettkampf oder während der Staffel enttäuscht zu sein über meinen eigenen WM-Einsatz. So liess auch ich es mir nicht nehmen für den letzten Akt in der WM-Woche - der Abschlussparty - zum Rocken über zu gehen.